Heute lese ich bei der Friedrich-Ebert-Stiftung, dass man TikTok nicht kampflos den Feinden der Demokratie überlassen sollte. Immerhin geht es um rund 21 Mio. deutsche, meist sehr junge, Nutzer:innen. Die Einsicht kommt recht spät! Zwar boomt TikTok nach wie vor, doch kommt mit Sicherheit bald der nächste große Knaller in den Sozialen Medien. Dann stehen wir wieder da wie die Kuh vor dem Berg.
Ich finde es wirklich bedauerlich, dass so wenige Akteure aus der politischen Mitte den Entdecker-Geist an den Tag legen, um zu lernen, sich auf neuen Plattformen zu präsentieren. Statt Experimente vor allem Bedenken! Dabei war es genau das Gleiche mit Facebook, Twitter und Instagram: Irgendwann kommt man nicht mehr drumherum.
Dieses Zitat stammt vom geschätzten Hannes Jähnert, sein LinkedIn Post und der der Friedrich-Ebert-Stiftung sind lesenswert, fasst meine Haltung zu TikTok heute gut zusammen. Ich schreibe „heute“ weil auch ich eine Weile gebraucht habe, um TikTok so ernst zu nehmen, wie es die Plattform verdient.
Datenschutzbedenken, chinesischer Eigentümer, anderer Algorithmus-Logik – all das war für mich zu lange Gründe, TikTok rein konsumierend, als Trend-Barometer, zu nutzen und sonst weitgehend zu ignorieren. In den letzten Jahren hat sich das jedoch, aus meiner heutigen Sicht, viel zu spät geändert.
Heute bin ich, mit Blick auf Zivilgesellschaft, Wohlfahrt und Soziale Arbeit, von drei Punkten überzeugt:
- Wir müssen TikTok nutzen und dürfen die Plattform nicht gesellschaftlich destruktiven Kräften überlassen.
- Wir brauchen mehr Offenheit und Ressourcen (!) für Experimente und müssen neue Plattformen schneller ausprobieren.
- Wenn wir TikTok nutzen, was wir sollten, siehe Punkt eins, dann nicht mit unserer normalen Jeder-für-Sich-Strategie. Wir müssen uns endlich zusammen tun!
Die beiden ersten Punkte dürften selbsterklärend sein, denke ich zumindest, der dritte benötigt jedoch ein wenig Erklärung.
Gute TikTok-Kommunikation braucht Ressourcen
Zuerst das Warum: Warum sollten wir uns auch auf TikTok zusammen tun und neue strategische Wege gehen?
Ein Teil der Antwort: Weil gut gemachte TikTok Kommunikation aus meiner Sicht mehr Ressourcen braucht als manch andere Plattform.
Hannes Jähnert hat seine ersten Erfahrungen mit TikTok in seinem Blog aufgeschrieben und im Rahmen des digitalsocialsummit 2022 auch in einem virtuellen Vortrag geteilt. Wer TikTok bisher nur vom Hören-Sagen kennt, sollte sich die 37 Minuten gönnen.
Die Deutsche Stiftung für Engagement und Ehrenamt, kurz DSEE, für die Hannes arbeitet, liefert dann auch gleich ein wunderbares Praxisbeispiel dafür, warum ein neues strategisches Vorgehen auf TikTok aus meiner Sicht unumgänglich ist.
Denn die DSEE war einige Zeit recht guten Ergebnissen auf TikTok aktiv und hat gezeigt, dass hier für die Themen Ehrenamt und Engagement gute Reichweiten und vor allem die Aufmerksamkeit von Menschen möglich sind.
Eines ihrer stärksten TikTok-Videos hatte über 34.000 Aufrufe.
Der TikTok-Kanal der DSEE machte vieles richtig:
- Ein relativ festes Team moderierte die Videos. So konnte eine Beziehung mit den Menschen entstehen.
- Die Videos waren themen- und Nutzer:innen-fokussiert. Es ging immer darum, was die Menschen sehen wollten und nicht darum, welche Werbebotschaften die DSEE platzieren wollte.
- Videos erschienen, zumindest einige Zeit, semi-regelmäßig, es konnte sich also eine gewisse Community und Fan-Basis etablieren.
- Viele Videos griffen aktuelle Trends, Themen und Entwicklungen auf. Dieses Am-Puls-des-Netzwerks-Sein ist auf TikTok bis heute sehr wichtig.
Trotz dieser positiven Aspekte schreibe ich das leider in der Vergangenheitsform. Denn Ende 2022 ging das vorerst letzte Video online. Die Pause wurde dann zwar klar kommuniziert, sie dauert jedoch bis heute an.
Ich kenne die Hintergründe dazu nicht, doch ich tippe darauf, dass die für TikTok tätigen Ressourcen dabei eine Rolle spielen, auch wenn sie sicher nicht der einzige Faktor sind.
Die Caritas Wien geht TikTok übrigens fast schon traditionell, also mit Themenfokus und Einblicken in die Arbeit der Caritas, an und erzielt damit ganz gute Erfolge. Eines ihrer stärksten Videos hat über 60.000 Aufrufe:
Doch auch dieser Kanal zeigt: Hier stehen Ressourcen dahinter, denn es werden regelmäßig Videos produziert und das in guter Qualität. Bevor meine Kolleginnen aus deutschen Caritasverbänden und Einrichtungen kommentieren: Ich weiß, dass die österreichischen Kolleg*innen anders strukturiert sind und über mehr finanzielle und personelle Ressourcen verfügen. Das hilft natürlich.
Doch genau hier setze ich an: Da wir in Deutschland in Wohlfahrt und Zivilgesellschaft als einzelner Verband, Träger oder Einrichtung eben nicht die nötigen Mittel haben, müssen wir neue Wege gehen. TikTok wäre die Gelegenheit, diese Wege zu erproben und einerseits Menschen zu erreichen und andererseits bereit zu sein, wenn neue Plattformen auftauchen.
TikTok für Wohlfahrt und Zivilgesellschaft: Gemeinsam für die Menschen
Wie sollten wir also TikTok nutzen? Mein Ansatz ist simpel und nicht neu, wird aber bisher nirgends konsequent umgesetzt. Er besteht aus drei Bausteinen:
- Wir legen themenzentrierte TikTok-Kanäle an. Es ist also nicht ein Caritasverband, eine Einrichtung der Diakonie oder ein Träger des Paritätischen aktiv, sondern ein gemeinsamer Kanal zu einem Themenfokus.
- Die Namen und Themen der Kanäle und Videos werden konsequent nutzer*innenzentriert ausgewählt. Es geht also beispielsweise nicht um „Arbeitsmarktintegration“, sondern um „Wege zum Job“ oder „Wege aus der Arbeitslosigkeit“.
- Die Videos und Inhalte werden von einem gemeinsamen Redaktionsteam erstellt. Die Träger und Einrichtungen können in speziellen Formaten – beispielsweise ein Stellenbörsevideo pro Woche oder ähnliches – sichtbar werden und für sich werben, sind sonst aber nur im Hintergrund.
Mir ist völlig klar, dass dieser Ansatz eine massive Haltungsänderung, politische Kompromisse und einiges an organisatorischer Arbeit mit sich bringt. Doch aus meiner Sicht ist es der einzig Sinnvolle, wenn wir es mit unserer gemeinsamen Mission, Menschen zu helfen und die Gesellschaft sozialer, gerechter und inklusive zu gestalten, ernst meinen.
Nur durch Kooperation können wir die Ressourcen bereitstellen, die wir brauchen, um bei den gesellschaftlich wichtigen Themen auf TikTok, und genau genommen auch anderen Plattformen, Menschen zu erreichen, die aktuell primär von destruktiven Kräften adressiert werden.
Meine Hoffnung: Wir gehen gemeinsame Schritte auf TikTok und anderswo
Auch wenn ich Berufsoptimist bin, gehe ich nicht davon aus, dass mein Artikel und Ansatz dazu führen werden, dass wir verbands- und organisationsübergreifend – beispielsweise auf Ebene der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, kurz bagfw – in absehbarer Zeit die nötigen Redaktionsstrukturen aufbauen.
Meine Hoffnung ist jedoch, dass sich einzelne von diesem Ansatz inspirieren lassen und diese Schritte im Kleinen gehen. Selbst wenn „nur“ Ortsverbände, die Einrichtungen einer Region oder eines Kreises oder zivilgesellschaftliche Vereine und Einrichtungen von Wohlfahrtsverbänden gemeinsame Kanäle einrichten würden, wären das Schritte in die richtige Richtung.
Wenn wir als Aktive der Zivilgesellschaft, Sozialen Arbeit und Wohlfahrt ein Gegengewicht zu den destruktiven Kräften setzen und Menschen erreichen wollen, müssen wir das gemeinsam tun.
TikTok ist aktuell die Plattform, auf der das absolut nötig ist. Doch die nächste Plattform oder das nächste Netzwerk werden kommen – und wir sollten bereit sein, dort schneller einzusteigen und uns von Beginn an zu positionieren.
Beim Thema der generativen KI gelingt uns schneller als bei Social Media, doch auch hier gilt: Nur gemeinsam können wir wirklich die Wirkung entfalten, die wir haben sollten, wenn wir unsere Mission und unseren Auftrag ernst nehmen.
P.S.: Wenn Einrichtungen, Träger, Vereine, Verbände oder andere Organisationen das hier lesen und die dafür nötigen Schritte ernsthaft gehen wollen, meldet euch. Ich unterstütze euch gerne. Wenn ihr es wirklich ernst meint, auf pro bono. Denn jeder gemeinsame Kanal, der Menschen mit wichtigen Themen erreicht, ist wertvoll und wichtig.
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